Fachwissen Powertage 2022

Stromversorgungssicherheit: Von der Selbstverständlichkeit zum Problemfall

Dass in der Schweiz kein Strom aus der Steckdose kommt, ist äusserst selten. Doch diese Versorgungssicherheit ist gefährdet – nicht sofort, aber ohne geeignete Gegenmassnahmen immer mehr.

Die Schweiz ist im Winter immer seltener in der Lage, ihren Strombedarf im Inland zu decken. Seit den 2000er-Jahren muss sie im Winterhalbjahr netto meistens mehr Strom importieren, als sie exportieren kann. Bisheriger Negativrekord war der Winter 2016/2017, wo fast 10 Mrd. Kilowattstunden Strom importiert werden mussten. Das geht nur so lange gut, als es in Europa Länder gibt, die im Winterhalbjahr Strom exportieren können und wollen. Zusätzlich müssen die verfügbaren Stromleitungen genügend Kapazität haben. Mit der angestrebten Dekarbonisierung der Energieversorgung – immer mehr Wärmepumpenheizungen und steigende Elektromobilität – sowie der absehbaren Stilllegung der Schweizer Atomkraftwerke wird sich die Situation noch massiv verschärfen.

Seit fast zwanzig Jahren muss die Schweiz im Winterhalbjahr mehr Strom importieren, als sie exportieren kann. (Quelle: Schweizerische Elektrizitätsstatistik)

Seit 2007 verhandelt die Schweiz mit der EU über ein Stromabkommen. 2018 fand die letzte Verhandlungsrunde statt. Seither liegt das Stromabkommen auf Eis, denn die EU verknüpft es mit dem Zustandekommen eines institutionellen Abkommens. Im Mai 2021 hat der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU über ein institutionelles Abkommen abgebrochen. Es ist damit zu rechnen, dass deshalb auch das Stromabkommen nicht oder nicht innert nützlicher Frist zustande kommt.

Fatale Konsequenzen eines Strommangels

Welche Auswirkungen haben der steigende Stromverbrauch und das fehlende Stromabkommen auf die Netzsicherheit und auf die Versorgungssicherheit der Schweiz? 

Die Stromversorgung ist ein Echtzeitsystem: Versorgungssicherheit ist nur dann gewährleistet, wenn zu jedem Zeitpunkt die gewünschte Menge an Elektrizität im gesamten Stromnetz verfügbar ist. Dazu braucht es Strom aus inländischen Kraftwerken oder aus Importen, ein Stromnetz, das genügend ausgebaut ist und sicher betrieben wird, sowie Übertragungskapazitäten zwischen den Ländern, die den grenzüberschreitenden Austausch ermöglichen.

Eine Studie von Oktober 2021 – beauftragt von der Eidgenössischen Elektrizitätskommission (ElCom) und dem Bundesamt für Energie – kommt in einem nicht unwahrscheinlichen Worst-Case-Szenario zum Schluss, dass in der Schweiz ab 2025 während 47 Stunden der inländische Strombedarf nicht mehr gedeckt werden kann. Unter extremen Annahmen (d.h. bei zusätzlichen Produktionsausfällen) könnte die Versorgung sogar bis zu 500 Stunden unterbrochen sein und mehr als 690 Gigawattstunden pro Jahr fehlen – eine veritable Strommangellage.

Nun existiert zwar mit Ostral, der Organisation für Stromversorgung in ausserordentlichen Lagen, ein Instrument, mit dem der Bund die Folgen einer Strommangellage abdämpfen kann. Trotzdem dürfte eine Strommangellage weitaus gravierendere Konsequenzen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben als die Coronavirus-Pandemie.


Massnahmen zur Sicherung der Stromversorgung

In seiner Roadmap Versorgungssicherheit präsentiert der Verband Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) Massnahmen zur Gewährleistung der Stromversorgung. Das Gesamtsystem Stromversorgungssicherheit funktioniert nur, wenn alle involvierten Akteure – Energiewirtschaft, Bund, Kantone, ElCom – zusammenspielen. Deshalb zeigt die VSE-Roadmap eine Gesamtsicht der notwendigen Massnahmen über die ganze Wertschöpfungskette: vom Verbrauch über Produktion und zentrale/dezentrale Speicher bis hin zu Handel und Netze. Ebenfalls berücksichtigt die Roadmap Fragen der Akzeptanz sowie die Themen Verfahren und Stromzusammenarbeit Schweiz–EU.

Grösstenteils braucht es zunächst regulatorischer Grundlagen, bevor Massnahmen konkret umgesetzt werden können. Während Optimierungen und Anpassungen bestehender Systeme kurzfristig möglich sind und umgehend wirken, brauchen Gesetzgebungsprozesse sowie die Errichtung von Infrastrukturanlagen (Projektierung, Finanzierung, Bewilligung, Bau) Zeit, sodass die effektive Wirkung erst mittel- oder langfristig spürbar wird.

Zu den prioritären Massnahmen gehören laut VSE folgende:

  • Rasche Etablierung einer Energiereserve
  • Zubau bei der Winterproduktion mit alpiner Fotovoltaik, Wind, Biomasse und Wasserkraft
  • Übergeordnete Interessenabwägung zwischen Schutz und Nutzung
  • Bilaterales Abkommen Schweiz–EU
  • Ausbau der Winter-Speicherwasserkapazität


An sich sind die Voraussetzungen für die Energie-und Klimastrategie der Schweiz gut. Das Land verfügt über eine gute Produktions-und Netzinfrastruktur und ist auf technischer Ebene ins europäische Netz integriert. Die Schweiz droht jedoch ins Hintertreffen zu geraten. Zielkonflikte zwischen Schutz und Nutzung sowie lange Bewilligungsverfahren behindern den raschen Ausbau der erneuerbaren Energien. Zudem gefährdet die Erosion der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit die Importfähigkeit und die Netzstabilität. Da ist es gut, dass die Wichtigkeit und die Dringlichkeit des Themas Versorgungssicherheit endlich in der öffentlichen Wahrnehmung und der politischen Diskussion angekommen sind.

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